Und Nietzsche weinte
Das Glockenspiel von San Salvatore riss Josef Breuer aus seinen Träumen. Er zog seine schwere goldene Uhr aus der Westentasche. Neun. Zum wiederholten Male studierte er das Billet mit Silberrand, das er am Vortage erhalten hatte.Yalom inszeniert in diesem Roman ein fiktives Zusammentreffen zweier intellektueller Zeitgenossen des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Josef Breuer - erfolreicher und berühmter Wiener Arzt, Ziehvater Freuds und Vordenker der psychotherapeutischen Behandlung - und Nietzsche - im Jahre 1882 schwer erkrankt und in verzweifeltem Zustande nach dem Zerwürfnis mit zwei seiner engsten Vertrauten: Paul Ree und Lou Salomé. Letzterer gelingt es, Breuer zu einer Behandlung Nietzsches zu bewegen - ein scheinbar hoffnungsloses Unterfangen, da es ohne Wissen Nietzsches geschehen soll und für seine Leiden in dieser Zeit eigentlich keine Behandlung existiert.
Es entspinnt sich daraus eine Reihe von Gesprächen, in denen es Breuer nach und nach gelingt, das Vertrauen Nietzsches zu gewinnen, indem er selbst immer mehr zum Patienten wird. Dabei rückt Breuers eigenes Leben immer mehr in den Vordergrund: seine Ehe- und Sinnkrise und das Verlangen auszubrechen. Diese Gespräche entwickeln sich zu einer Art psychologischem Schachspiel, in dem es darum geht, über den anderen Geist Macht zu gewinnen, ihm Geheimnisse und Geständnisse zu entlocken. Dabei werden zentrale Gedanken von Nietzsches Philosophie verarbeitet und kommentiert.
»Ich habe einen zutiefst verzweifelten Freund. Es steht zu befürchten, er könnte sich in naher Zukunft das Leben nehmen. Das wäre für mich ein schmerzlicher Verlust, und überdies insofern tragisch, als ich selber daran einen gewissen Anteil hätte. Nun, das könnte ich ertragen und überwinden, doch... « - sie beugte sich vor und senkte die Stimme - » ... der Verlust ginge weit über meine Person hinaus; der Tod dieses Mannes hätte gewaltige Folgen - für Sie, für die europäische Kultur, für uns alle. Glauben Sie mir.«So spannend die Geschichte selbst auch anmutet bleibt es zumindest bis zum Schluss unklar, was von der Erzählung erfunden und was real ist. Yalom verwendet Originaldokumente, Briefe und Tagebucheinträge Nietzsches, Breuers und Lou Salomés, vermischt diese aber mit rein fiktiven Dokumenten, was erst im Nachwort aufgeklärt wird. Yaloms Darstellung Nietzsches schwankt dabei zwischen der eines originellen und genialen Geistes einerseits und der eines kranken, verbitterten und vereinsamten Kauzes: das übliche Motiv von Genie und Wahnsinn eben.
Kurzum: ein ebenso experimentelles wie geistreiches Buch, dessen biographisches Anliegen nicht zu ernst genommen werden darf.
Und Nietzsche weinte
Rezensiert von Alexander Schau
Alex lebt schon eine Weile nicht mehr in Leipzig, liebt aber immer noch Ebooks und liest eigenen Angaben zufolge durchschnittlich 6,73 Bücher pro Monat. Paulo Coelho findet er immer noch widerlich, daran hat auch der Umzug nichts geändert.