Blitzeis

Ich war mit dem Abendzug aus dem Welschland nach Hause gekommen. Damals arbeitete ich in Neuchâtel, aber zu Hause fühlte ich mich noch immer in meinem Dorf im Thurgau. Ich war zwanzig Jahre alt.
Unbeschwertheit – das ist es wohl, was die hier versammelten neun Kurzgeschichten alle eint: Die Ehrlichkeit des Erzählten, die Leichtigkeit, mit der die Figuren sich in ihren kleinen Welten umherbewegen. Sie alle sind auf ihre Weise Außenseiter, die nach etwas suchen, das sie nicht finden können und in den Geschichten auch nicht finden werden. Sie alle sind Meister des Unausgesprochenen und haben sich lange schon in ihren Leben und in sich selbst verfangen. Sie sind mit sich selbst und ihren Mitmenschen überfordert, und dennoch kämpfen sie ständig dagegen an, erneut zu versagen.
»Am schönsten sind wir, wenn wir tun, was wir können«, sagte ich, »was wir immer getan haben.«
Die große Stärke dieser Erzählungen sind die Leerstellen, die sie umkreisen; das Jetzt wird Stück für Stück von der Vergangenheit eingeholt und vielleicht auch gerade dadurch erst erklärbar gemacht. Menschliche Zurückweisung ist allgegenwärtig, die Figuren wirken wie in Käfige gesperrt mit ihrer Ich-Zentriertheit, die sie anderen nie ganz begreiflich machen können und die sie auch selbst kaum verstehen.
Immer wenn ich an Maria denke, fällt mir ein Abend ein, an dem sie für uns gekocht hatte. Wir anderen saßen schon am Tisch im Garten, und Maria stand in der Tür, in den Händen eine flache Schüssel. Ihr Gesicht glühte von der Hitze der Küche, und sie strahlte vor Stolz über ihr Werk. In diesem kurzen Augenblick tat sie mir unglaublich Leid und mit ihr die ganze Welt und ich mir selbst, und zugleich liebte ich sie mehr als jemals zuvor. Aber ich sagte nichts, und sie stellte das Essen auf den Tisch, und wir aßen.
Es ist ein großes Vergnügen, Peter Stamm zu lesen – nicht etwa, weil seine Sprache besonders schillernd oder er ein Meister der Handlungsstränge wäre; Stamms Stärke sind die Menschen, die er zeichnet, und die Situationen, die er sie durchleben lässt. Er hat ein unglaubliches Händchen fürs Beschreiben, für die kleinen und unscheinbaren Einzelheiten. Er ist ein starker Beobachter, und seine behutsame und reduzierte Erzählweise rückt all diese zwischenmenschlichen Leerstellen so gekonnt in den Mittelpunkt, dass man sich deren Absolutheit nur schwer erwehren kann.

Blitzeis

132 Seiten, € 8,99, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3596192557

→ Leseprobe→ kaufen
Rezensiert von Alexander Schau