von Karen Duve
Macht
Ich habe gerade das Telefon installiert, das ich auf dem Dachboden gefunden habe, ein einfacher hellgrauer Fernsprechapparat mit Wählscheibe und ohne technische Fisimatenten – kein Stand-by-Modus, kein Bildschirm, kein integriertes Kopiergerät, dessen Druckerpatrone nur unter Zuhilfenahme einer bebilderten Bedienungsanleitung gewechselt werden kann, und vor allem kein Anrufbeantworter. Nichts als ein altmodisch großer Hörer auf einem robusten Gehäuse, das von jedem Laien mit einem einfachen Schraubenzieher geöffnet und repariert werden kann.Sebastian Bürger ist ein altmodischer Mensch, der seine gesamte Wohnung in der Nähe von Hamburg im Stil der 70er und 80er Jahre eingerichtet hat, weil er damals seine Jugendzeit erlebte und wahrscheinlich glücklich war. Seine Rückwärtsgewandtheit wird dadurch erhöht, da der Roman im Jahre 2031 spielt und viele der von Sebastian begehrten Objekte mehr als altmodisch erscheinen. Im Jahre 2031 nämlich gibt es keine Handys mehr, sondern Ego-Smarts und Compunikatoren, Autos werden mit Wasserstoff angetrieben und die Kinder vertreiben sich die Zeit gerne mit Hologramm-Spielen. Die Menschen haben außerdem ein Wundermittel erschaffen, Ephebos, das sie jünger macht. Mit diesem Medikament verwandelt sich ein 80jähriger in kurzer Zeit in einen 20jährigen, der attraktiv aussieht und im Saft seines Lebens steht.
Doch zeichnet Duve keine heile Welt, ganz im Gegenteil: Die Umwelt ist zerstört, das Wetter spielt verrückt, der Killer-Raps ist kaum zu bändigen, Rapskäfer sind eine Plage und Ebola grassiert. Jedes Individuum erhält ein festes Kontingent an CO2-Punkten, den es konsumieren darf, um beispielsweise Fleisch zu kaufen oder mit dem Auto zu fahren. Sebastian fürchtet, dass die Welt in etwa fünf, maximal in zehn Jahren untergehen wird. Was jedoch am meisten auf Sebastian einwirkt, ist die Tatsache, dass die Frauen an der Macht sind und Männer zurückgedrängt werden. Männer haben versagt, haben die Erde in den Abgrund getrieben und Frauen sollen den sicheren Untergang noch verzögern. Sebastian ist dermaßen frustriert, weil er einst zu den Ökos gehörte und zu Besonnenheit und schonendem Umgang mit der Umwelt aufrief. Vergebens, er wurde nie beachtet und findet auch jetzt kein Gehör, sondern verschwindet in der Bedeutungslosigkeit.
Und genau diese Bedeutungslosigkeit ist es, die ihn ausrasten lässt. Seine Fassade hält er aufrecht, gibt sich als fürsorglicher Familienvater aus, der sich liebevoll um seine beiden Kinder kümmert. Er arbeitet in der Demokratiezentrale und lässt alle seine Frustrationen, Ängste und seinen tiefsitzenden Hass an seiner einst erfolgreichen Frau Christine aus, die er seit zwei Jahren in einem Kellerraum eingesperrt hat und über die er nach Lust und Laune verfügen kann.
Wieder zu Hause gehe ich als Erstes in den Keller, um Christine Gesellschaft zu leisten, mich ein wenig mit ihr zu unterhalten und ihr die Zeit zu vertreiben. Mir ist bewusst, dass es nicht besonders angenehm sein kann, 48 Stunden lang allein in einem geschlossenen Raum ohne Fenster zu verbringen, und sie lässt ja auch keine Gelegenheit aus, es mir unter die Nase zu reiben. Also räume ich die Konservendosen aus dem Kellerregal, die Erbsen und Wurzeln und die Tortenpfirsiche, schiebe das Regal zur Seite, drehe mit meinem 70er-Jahre Black-&-Decker die Schrauben aus der Sperrholzplatte, löse sie von der Wand und drücke die Zahlenkombination, um die Stahltür zu öffnen. Voilà, schon bin ich in meinem kleinen, geheimen Reich des Trostes, meiner Schutzzone.Spätestens in Kapitel 3 wird klar, dass Sebastian psychisch krank und völlig unkontrollierbar ist, zu Gewalt neigt aber dennoch kein Psychopath ist, weil er noch immer Mitgefühl empfindet für seine Frau, das jedoch in Sekundenbruchteilen umschlagen kann in Hass und Aggression.
Eine nette Strandlektüre ist der Roman bestimmt nicht. Den brutalen Höhepunkt erreicht er in den Kapiteln 16, 17 und 18, denn Sebastian hat sich in seine ehemalige Klassenkameradin Elli verliebt und beginnt endlich, 50 Jahre nach seinem Abitur, eine Beziehung mit ihr, der heimlichen Liebe seines Lebens. Da stört seine „verschollene“ Frau nur noch, er muss sie beseitigen, um ein neues Leben zu beginnen, doch geht alles schief in diesen Kapiteln, es gibt überraschende Wendungen, die Spannung ist enorm. Leider kann Karen Duve diese nicht halten und findet keinen überzeugenden Ausweg aus der den Figuren zugemuteten Situation. Anstatt das Machtgefüge zwischen Elli, Christine und Sebastian in einem kleinen Rahmen auszuloten, begibt sich der Priklopil der Zukunft auf die Flucht. Seinem Heim entflohen trifft er seinen Bruder, den er nicht ausstehen kann, die Männergruppe MASCULO, die gegen den Staatsfeminismus ankämpfen will und einen ehemaligen, stadtbekannten Brutalo-Mitschüler, der ihm die Nase zertrümmert. Tierschützer kämpfen mit Flüchtlingen, und Sebastian versucht, dem allgemeinen Chaos zu entkommen, er will nach Paraguay, weil er zwei Frauen an sein Leben gekettet und deswegen die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Karen Duve verliert im Verlauf des Romans die Kontrolle über ihre Figuren und den Plot, die Handlungen wirken erzwungen, die Fäden entgleiten ihr, sie mutet ihren Figuren zu viel zu und driftet ab ins klischeehafte und kann deswegen nicht überzeugen. Sie beschreibt das Geschehen trotz Ich-Erzählers immer nur von außen und nicht aus einer verstehenden Innenperspektive, »Macht« ist eher ein Drehbuch denn ein Science-Fiction-Roman geworden. Als Thriller hätte der Roman besser funktioniert, denn der Science-Fiction-Elemente hätte es nicht bedurft, um das komplexe Thema Macht in seinen Facetten auszuloten.
Schade, denn die zugrundeliegende Idee des Romans ist sehr gut, aus vielen Aspekten hätte man mehr machen können: aus dem Jungsein durch Medikamente, aus der gesellschaftlichen Verwahrlosung und den neuen Wertkonflikten angesichts des drohenden Weltuntergangs, aus dem Staatsfeminismus usw. Eine Reduktion auf wenige Themen wäre angebracht gewesen, einhergehend mit einer Konzentration auf ausgewählte Figuren. Duve hätte Sebastians Sehnsucht nach einer Reduktion der komplexen Welt beherzigen sollen. Weniger ist manchmal mehr. So bleibt nach der Lektüre ein schaler Nachgeschmack, weil man nach anfänglichem Thriller-Effekt doch enttäuscht wird. Macht nix, Duve hat schon besseres geschrieben.