von John Irving
Garp und wie er die Welt sah
O Mann, dachte Garp, aber er ließ diese Mitteilung da, damit sie zusammen mit ihren anderen Sachen gefunden wurde. Er gehörte nicht zu den Schriftstellern oder zu den Männern, die wichtige Botschaften unterschlugen – selbst wenn die Botschaften verrückt waren.Irving hat wieder eine Familie erschaffen. Das Leben des Garp breitet er aus vor unseren Füßen wie einen fein gewobenen Teppich, dessen Muster und Linien wechseln zwischen Regelmäßigkeit und Verwaschungen. Es ist unmöglich zu sagen, wer Garp ist. Denn der Roman ist keine Momentaufnahme, sondern ein Portrait des Lebens. Garp ist zunächst nicht mehr als ein Wunsch im Kopf seiner Mutter in den 1940er Jahren. Siebenunddreißig Seiten später ist er real. Neun Monate später greifbar. Irving lässt nichts aus. Er will keine Rätsel aufgeben, er will sie lösen. Seine Figuren müssen verstanden werden. Der Leser weiß besser als Garp selbst, welche Umstände ihn zum Leben erweckt haben. Kein bloßer Akt, kein reines Gefühl. Es sind die Atemzüge des Lebens selbst, die in einer unumkehrbaren Abfolge genau das passieren lassen, was auf den knapp 700 Seiten geschieht. Garp wächst, atmet, lebt und bekommt selbst Kinder. Das Leben eines Mannes. Eines Schriftstellers. Soweit der rote Faden. Man muss den Roman darauf herunterbrechen, wenn es um seinen Inhalt geht. Wenn es um seinen Gehalt geht, darf man es nicht.
Wir lassen uns nieder auf die Knie, je mehr Seiten wir umschlagen, desto mehr nähern wir uns dem verschlungenen Textil. Irvings Figuren machen süchtig. Denn die Kunst des Autors ist die deskriptive Genauigkeit seiner Charaktere. Beim Lesen spürt man so viele Regungen, wie das Buch Augenblicke ineinander fügt. Und obwohl John Irving alles auflöst, was Handlungen, Schicksale und Absichten seiner Garps und ihres Umfelds betrifft, so bleibt am Ende eine wohltuende Nachdenklichkeit. Warum machen uns manche private Geständnisse im Kontext einer gesellschaftlichen Entwicklung zu deren Anführer? Was macht eine starke Frau aus? Wie wahrhaftig sind die Ziele, welche wir im Namen anderer verfolgen? Was bleibt vom Tod? Wie weit geht unsere Determiniertheit, wenn wir sie anerkennen, und zieht sie sich zurück, wenn wir es nicht tun? Oder schaffen wir uns so nur Freiheit im Kopf? Und warum muss eine im Kopf erlebte Freiheit uns körperlich einschränken? Wie das Leben so spielt, so spielt auch Irving. So spielt Garp. Keine seiner Figuren ist absurd. Sie sind real. Dass die Realität manchmal absurd ist, macht es umso glaubhafter. John Irving erschafft Leben und Authentizität einer Familie, die genauso existiert haben könnte. Am Ende scheint es dem Leser, als hätte er selbst den Teppich gewoben, Garp ist keine Variable mehr, sondern ein Mensch.
Garp und wie er die Welt sah
von John Irving
Rezensiert von Linn Micklitz
Linn Penelope Micklitz schreibt, liest und lebt in Leipzig.
Ihre Lebensaufgabe ist die Beherbergung zu vieler Katzen auf zu wenig Raum.
Und ihr Philosophiestudium.