von Ehm Welk
Die Heiden von Kummerow
Ein alter, von Büchern gestützter Glaube will wissen, das irdische Paradies habe in Vorpommern gelegen; (…) es könne nur bei Kummerow im Bruch hinterm Berge gelegen haben. Der Erzähler, selbst ein Kummerower, hat beim Nachforschen zwar nicht die Wiege der Menschheit gefunden, aber, wie er glaubt, ein Stückchen vom Schaukelfuß dieser Wiege.Ehm Welks wohl bekanntester Roman ist mit Recht ein Klassiker. Die immer wieder neu verlegten, verfilmten und von mir schon mehrfach mit Vergnügen gelesenen Geschichten um den 10-jährigen Martin Grambauer, angesiedelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Welks eigener vorpommerschen Heimat Kummerow, sind unterhaltsam, kurzweilig und mitunter sehr ulkig. Die überaus realistische Darstellung des ländlichen Lebens im deutschen Kaiserreich ist jedoch auch äußerst ernst und hinterfragt hartnäckig die, aus heutiger Sicht drastischen gesellschaftlichen Probleme dieser Zeit. Somit ist der Roman sehr viel mehr als eine volkstümlich-idyllische Dorfposse und lässt mich als Leser schmunzelnd, aber eben auch immer nachdenklich und grübelnd zurück, da die Sehnsucht und Suche des Hauptakteurs eine ewige und zu allen Zeiten bestehende ist.
Das große Thema des Romans und in Martins Welt ist die Gerechtigkeit. Er macht sich so seine Gedanken über die Menschen im Dorf, warum sie so sind, wie sie eben sind, warum offensichtlich jeder Gut und Böse in sich trägt, warum manche arm und manche reich sind, was Gerechtigkeit ist und woher sie kommt. Dabei lernt er ziemlich schnell: Gerechtigkeit steckt nicht zwangsläufig im Menschen, nicht in der Kirche und schon gar nicht in den Gesetzen der Obrigkeit. Im Gegenteil, aus seiner Sicht geht von diesen Institutionen eine enorme Ungerechtigkeit aus, und gleichzeitig hadert er mit dem Gedanken, das alles einfach so hinzunehmen.
Ja, die Armut erzieht nicht immer Rebellen gegen eine Ordnung, die Armenhäuser und Schlösser baut; und Kirchen in denen den Bewohnern beider so unterschiedlicher Gebäude der gleiche Himmel verheißen wird. Und (…) Martin zweifelte, ob das nur Menschen, die nicht in Armenhäusern wohnten, so sagten. War es aber nicht Gottes Wille, warum ließ Gott es sich vom Grafen und vom Pastor und vom Schulzen gefallen?Die Erwachsenen können ihm da auch nicht weiter helfen. Sie haben mit ihrem eigenen oft harten Alltag zu kämpfen und darüber hinaus ihren Sinn für Gerechtigkeit entweder komplett vergessen oder sie unterdrücken ihn, aufgrund eigener Ohnmacht, Obrigkeitshörigkeit oder persönlicher Interessen. Da ist der Dorfpastor, der von den heidnischen Kummerowern christliche Demut und Bescheidenheit fordert und durch sein Vorteilsdenken und seine Bequemlichkeit doch selbst den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Da ist der Dorfschullehrer – ein sensibler Feingeist, der seine humanistischen Prinzipien den herrschenden Realitäten opfert und sich nur hin und wieder traut, der Herrschaft schüchtern entgegen zu treten. Da ist Martins Vater, ein Sozialdemokrat, der die Probleme erkennt, sich jedoch über die eigene Machtlosigkeit mit Selbstzweifeln plagt und in seiner Rebellion über gelegentliche aufrührerische Reden und Sticheleien nicht hinaus kommt. Da sind auch die vielen anderen Kummerower, einfache, fleißige und im Grunde doch gottgläubige Bauern, die aber auch gierig, ängstlich, heuchlerisch und eben Menschen sind. Das Resultat ihrer jeweiligen Lebensumstände, kleine Bauern, die frömmelnd und obrigkeitstreu Graf und Pastor hochleben lassen und hinterrücks deren Hühner klauen und Mägde verführen.
Bloß der Ärger mit den Heiden von Kummerow, die tranken und spielten und tanzten und setzten uneheliche Kinder in die Welt, die Kirche war immer halb leer, mit den Abgaben knickerten sie und stänkerten und ans Seelenheil dachten sie kaum. Bei den letzten Reichstagswahlen hatten sie sogar zwei sozialdemokratische Stimmen abgegeben.Und über allem schwebt außerdem, wie ein Damoklesschwert, die kaiserliche Ordnung und Bürokratie, die »Maschine der irdischen Gerechtigkeit«, die gefräßig und unbarmherzig jeden verschlingt, der nicht aufpasst bzw. nicht reinpasst ins System. Bezeichnend für ihre Härte ist das Schicksal des alten Kuhhirten Krischan, der zum Spielball der Mächtigen und Machthungrigen wird. Sie alle versagen im Angesicht der kindlich-ehrlichen Moral, die der heuchlerischen Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Welks Sprache ist ruhig, mit urkomischen aber auch melancholischen Spritzern. Sie kommt ohne Übertreibungen und jegliche Effekthascherei aus und setzt die unruhigen und stürmischen Gedanken und Taten der Kinder immer wieder in Kontrast zur leisen, wunderschönen und weiten Landschaft Vorpommerns. Welk versorgt uns mit Anekdoten, detaillierten Naturbeobachtungen und universellen Lebensweisheiten. Ehrlich und liebevoll versteht es Welk, die Sehnsucht der Jugend nach Wahrheit und Wahrhaftigem zu beschreiben. Martins Entwicklung ist deutlich und aufwühlend, aber längst nicht abgeschlossen. Denn das ist sie auch in der Realität nie…
Rezension von Angela Richter
Die Heiden von Kummerow
von Ehm Welk
416 Seiten, € 24,99, gebunden
Hinstorff Verlag, ISBN 978-3356015157
Hinstorff Verlag, ISBN 978-3356015157
Die Heiden von Kummerow
von Ehm Welk
Ein alter, von Büchern gestützter Glaube will wissen, das irdische Paradies habe in Vorpommern gelegen; (…) es könne nur bei Kummerow im Bruch hinterm Berge gelegen haben. Der Erzähler, selbst ein Kummerower, hat beim Nachforschen zwar nicht die Wiege der Menschheit gefunden, aber, wie er glaubt, ein Stückchen vom Schaukelfuß dieser Wiege.Ehm Welks wohl bekanntester Roman ist mit Recht ein Klassiker. Die immer wieder neu verlegten, verfilmten und von mir schon mehrfach mit Vergnügen gelesenen Geschichten um den 10-jährigen Martin Grambauer, angesiedelt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Welks eigener vorpommerschen Heimat Kummerow, sind unterhaltsam, kurzweilig und mitunter sehr ulkig. Die überaus realistische Darstellung des ländlichen Lebens im deutschen Kaiserreich ist jedoch auch äußerst ernst und hinterfragt hartnäckig die, aus heutiger Sicht drastischen gesellschaftlichen Probleme dieser Zeit. Somit ist der Roman sehr viel mehr als eine volkstümlich-idyllische Dorfposse und lässt mich als Leser schmunzelnd, aber eben auch immer nachdenklich und grübelnd zurück, da die Sehnsucht und Suche des Hauptakteurs eine ewige und zu allen Zeiten bestehende ist.
Das große Thema des Romans und in Martins Welt ist die Gerechtigkeit. Er macht sich so seine Gedanken über die Menschen im Dorf, warum sie so sind, wie sie eben sind, warum offensichtlich jeder Gut und Böse in sich trägt, warum manche arm und manche reich sind, was Gerechtigkeit ist und woher sie kommt. Dabei lernt er ziemlich schnell: Gerechtigkeit steckt nicht zwangsläufig im Menschen, nicht in der Kirche und schon gar nicht in den Gesetzen der Obrigkeit. Im Gegenteil, aus seiner Sicht geht von diesen Institutionen eine enorme Ungerechtigkeit aus, und gleichzeitig hadert er mit dem Gedanken, das alles einfach so hinzunehmen.
Ja, die Armut erzieht nicht immer Rebellen gegen eine Ordnung, die Armenhäuser und Schlösser baut; und Kirchen in denen den Bewohnern beider so unterschiedlicher Gebäude der gleiche Himmel verheißen wird. Und (…) Martin zweifelte, ob das nur Menschen, die nicht in Armenhäusern wohnten, so sagten. War es aber nicht Gottes Wille, warum ließ Gott es sich vom Grafen und vom Pastor und vom Schulzen gefallen?Die Erwachsenen können ihm da auch nicht weiter helfen. Sie haben mit ihrem eigenen oft harten Alltag zu kämpfen und darüber hinaus ihren Sinn für Gerechtigkeit entweder komplett vergessen oder sie unterdrücken ihn, aufgrund eigener Ohnmacht, Obrigkeitshörigkeit oder persönlicher Interessen. Da ist der Dorfpastor, der von den heidnischen Kummerowern christliche Demut und Bescheidenheit fordert und durch sein Vorteilsdenken und seine Bequemlichkeit doch selbst den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Da ist der Dorfschullehrer – ein sensibler Feingeist, der seine humanistischen Prinzipien den herrschenden Realitäten opfert und sich nur hin und wieder traut, der Herrschaft schüchtern entgegen zu treten. Da ist Martins Vater, ein Sozialdemokrat, der die Probleme erkennt, sich jedoch über die eigene Machtlosigkeit mit Selbstzweifeln plagt und in seiner Rebellion über gelegentliche aufrührerische Reden und Sticheleien nicht hinaus kommt. Da sind auch die vielen anderen Kummerower, einfache, fleißige und im Grunde doch gottgläubige Bauern, die aber auch gierig, ängstlich, heuchlerisch und eben Menschen sind. Das Resultat ihrer jeweiligen Lebensumstände, kleine Bauern, die frömmelnd und obrigkeitstreu Graf und Pastor hochleben lassen und hinterrücks deren Hühner klauen und Mägde verführen.
Bloß der Ärger mit den Heiden von Kummerow, die tranken und spielten und tanzten und setzten uneheliche Kinder in die Welt, die Kirche war immer halb leer, mit den Abgaben knickerten sie und stänkerten und ans Seelenheil dachten sie kaum. Bei den letzten Reichstagswahlen hatten sie sogar zwei sozialdemokratische Stimmen abgegeben.Und über allem schwebt außerdem, wie ein Damoklesschwert, die kaiserliche Ordnung und Bürokratie, die »Maschine der irdischen Gerechtigkeit«, die gefräßig und unbarmherzig jeden verschlingt, der nicht aufpasst bzw. nicht reinpasst ins System. Bezeichnend für ihre Härte ist das Schicksal des alten Kuhhirten Krischan, der zum Spielball der Mächtigen und Machthungrigen wird. Sie alle versagen im Angesicht der kindlich-ehrlichen Moral, die der heuchlerischen Gesellschaft den Spiegel vorhält.
Welks Sprache ist ruhig, mit urkomischen aber auch melancholischen Spritzern. Sie kommt ohne Übertreibungen und jegliche Effekthascherei aus und setzt die unruhigen und stürmischen Gedanken und Taten der Kinder immer wieder in Kontrast zur leisen, wunderschönen und weiten Landschaft Vorpommerns. Welk versorgt uns mit Anekdoten, detaillierten Naturbeobachtungen und universellen Lebensweisheiten. Ehrlich und liebevoll versteht es Welk, die Sehnsucht der Jugend nach Wahrheit und Wahrhaftigem zu beschreiben. Martins Entwicklung ist deutlich und aufwühlend, aber längst nicht abgeschlossen. Denn das ist sie auch in der Realität nie…
Rezension von Angela Richter