Die Gräfin von Parma

In Mestre verabschiedete er sich von den Gondolieri. Balbi, der verlotterte Klosterbruder, hätte ihn hier fast noch einmal der Polizei in die Hände geliefert, war er doch im Augenblick der Abfahrt der Postkutsche nirgends zu sehen.
Der legendäre Giacomo Casanova gilt als Inbegriff des Verführers. Im Anschluss an den Roman erklärt Sándor Márai in der Nachbemerkung etwas, was man sich während der Lektüre schon beinahe gedacht hatte: Casanova stand ihm Pate für seine Hauptfigur des Giacomo.
Ebendieser gelangt unter abenteuerlichen Umständen nach Bozen und kehrt dort in einem Gasthof ein. Er hat Venedig hinter sich gelassen und ist aus dem Kerker der Inquisition geflohen, sehr zur Belustigung des Volkes, das ihn heldengleich feiert. Die Nachricht von seinem Mut eilt ihm voraus und macht auch über die Landesgrenzen hinaus die Runde.
In Bozen angekommen, frönt er dem lasterhaften Leben, verbringt seine Zeit mit Glücksspiel und dem Zimmermädchen. Eines Tages erhält er auf seinem Zimmer Besuch von einem alten Bekannten: Der Graf von Parma höchst persönlich wird vorstellig, um ihm einen Brief seiner Frau zu überbringen. Francesca, die junge und bildschöne Gräfin, ist das Bindeglied in der Beziehung der beiden Männer: Der Graf hat damals die zwei Liebenden auseinandergebracht, Francesca ihrem Vater abgekauft und Giacomo mit dem Tod gedroht, sollte er sich der Gräfin in Zukunft noch einmal nähern. - Nun aber erscheint er höchstpersönlich, um Giacomo um einen sonderbaren Gefallen zu bitten: Er will ihm Francesca für eine einzige Nacht überlassen, um sie von ihrer Liebe zu ihm zu heilen. Giacomo soll Francesca ent- und verführen, soll sie reinwaschen, die einzige Frau, die er jemals wirklich geliebt hat; er soll sie kränken und am kommenden Morgen für immer die Stadt verlassen. Die beiden Männer schließen einen Vertrag, und kurz darauf kommt es zum nächtlichen Showdown: Giacomo erhält Besuch von Francesca.
»Mit welchem Recht«, die Arme über der Brust gekreuzt und an den Kamin gelehnt, »mit welchem Recht lässt mich der Graf von Parma überwachen?«
»Mit dem Recht der Selbstverteidigung«, sagte der Graf einfach und ohne Schärfe. »Ihr wisst vielleicht – und gerade Ihr solltet das wissen - , dass es neben der öffentlichen Gewalt noch eine andere gibt. Die Zeit, in der ich lebe, und mein Alter, das mir die Kräfte raubt, berechtigen mich dazu.«
Márai lässt sich sehr viel Zeit, um Giacomos Wesen greifbar zu machen. Das Kartenspiel, die Frauenzimmer, die ihn wegen seiner markanten Männlichkeit und seiner Wildheit beinahe wie ein Tier betrachten – all das zeichnet ein starkes Bild seines Charakters.
Umso enttäuschender ist es schließlich aber, dass dieses ganze Wissen für den Leser zum Ende der Geschichte hin so gut wie unbrauchbar wird. Als der Graf und nach ihm Francesca auftreten, schweigt Giacomo weitgehend und lauscht den Monologen seiner Besucher andächtig. Was wir über diesen Mann und sein Wesen wissen, über seine Abenteuerlust und seine Untriebigkeit, verpufft nach und nach, weil es für die Wendung der Nacht und den Ausgang der Geschichte nicht von Bedeutung scheint.
Der Roman selbst wirkt seltsam verwaschen und berührt diesmal kaum, obwohl die Geschichte das nötige Potenzial dafür durchaus besitzt und Márais Sprache mit ihrer filigranen Genauigkeit wie immer Großes leistet.

Die Gräfin von Parma

244 Seiten, € 12,99, Taschenbuch
Piper, ISBN 978-3492960021
aus dem Ungarischen von Renée von Stipsicz-Gariboldi

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Rezensiert von Alexander Schau