von Andreas Gößling
Der Ruf der Schlange
Auf dem Schindanger vor dem Schiffstor von Phora baute ein bakusischer Zirkus seine Zelte auf und damit begannen Samu Rabovs Probleme. Jedenfalls sollte er auch später noch hartnäckig an dieser Version festhalten. In Wahrheit hatten seine - und keineswegs nur seine - Schwierigkeiten lange vorher angefangen. Jahre zuvor, an einem von Schlingpflanzen mit fleischigen Blättern und tiefgründigen Blüten (schorfroten, mitternachtsblauen) überwucherten Ort im zaketumesischen Nebelwald, dessen Name Rabov damals nicht einmal hätte buchstabieren können. Naxoda. Gesprochen, unerwarteterweise: Nachkodá.Willkommen in Phora, der umtriebigen Hauptstadt des Vereinigten Dunibischen Königreiches. Wir schreiben das Jahr 713 neuer Zeit. Wobei weniger auf Euphemismen bedachte Zeitgenossen es noch als das Jahr 713 nach der Flut bezeichnen würden. Denn Phora steht wie jede andere Stadt des Kontinents auf den Ruinen einer vor sieben Jahrhunderten im wahrsten Sinne des Wortes untergegangenen Zivilisation. Und wie auch im restlichen Königreich leben die Phoräer in der steten Angst, eine zweite Große Flut könne bald kommen, um wieder den Hochmut und den Frevel der Menschen zu bestrafen, die es sich erneut herausnahmen, selbstbewegte Maschinen wie Dampfwagen und Plattenspieler herzustellen. So jedenfalls predigen es die Priester von Staatsgott Linglu, und die müssen es ja wissen.
Ganz andere Probleme hingegen hat gerade Samu A. Rabov, königlicher Spezialagent und Leiter des Mysto, das für den unbedarften Passanten zwar nur ein harmloser Kostümladen zu sein scheint, in Wirklichkeit aber für die Königliche Ermittlungsstelle für Mysteriöse Todesfälle steht. Somit darf sich Rabov mit all jenen Fällen befassen, bei denen Magie im Spiel gewesen sein könnte. Und obwohl er sich in dieser Funktion aktuell nur damit herumschlagen muss, einen vorlauten Straßenjungen vor einem opferfreudigen Schlangenkult zu verstecken und einen verdächtig tollpatschigen Assistenten einzulernen, wird es bald mehr als genug Arbeit für ihn geben. Denn etwas unheilvoll Mächtiges geht um in den Straßen Phoras: Ein fast in Vergessenheit geratener Verwandlungszauber wird zum Mordinstrument und dem Professor für Zaketumesische Altertumsforschung wurde anscheinend das Rückenmark von innen heraus entfernt. Das Ganze steht scheinbar in Verbindung mit einem uralten Schöpfungsmythos, auf den besagter Professor irgendwo in den Ruinen einer legendären Stadt tief im dunkelsten Dschungel stieß. Und der einem die Haare zu Berge stehen lässt. Dann ist da noch diese alte Prophezeiung der Linglu-Priester, der zufolge unmittelbar vor der nächsten Großen Flut „die Schlangen ihre nassen Nester verlassen“ werden und die Rabov einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Rasch wird ihm klar, dass er diesen Fall schnellstmöglich lösen muss.
Rabov zuckte abermals mit den Schultern. „Fragen Sie den Leichenbeschauer - der wird Ihnen versichern, dass Velissa Labiano tot ist und bestimmt nicht zu uns zurückkehren wird.“ Er deutete auf die angewinkelten Knie der Archäologin, die jetzt nahezu vollständig verholzt und mit grauer Rinde überzogen waren. „Aber was ist mit dem Baum, in den sie sich gerade eben verwandelt?“ Er ging zur linken Seite des Bettes und fuhr mit den Fingerspitzen über die Fußsohlen der Labiano. Glibberige, mehlfarbene Fäden sprossen daraus hervor. „Schauen Sie sich das an“, ermunterte Rabov den Assistenten, „sie fängt schon an, Wurzeln auszutreiben.“Es dauert etwa drei Kapitel (also ziemlich genau hundert Seiten), bis die Geschichte anfängt, einen in ihren Bann zu ziehen. Aber immerhin nutzt Autor Andreas Gößling diese Zeit, um den Leser mit der Welt vertraut zu machen, die er für seine eigentlich klassische Hardboiled-Detective-Story erschaffen hat. Eine Welt, die angenehm weit weg ist von den üblichen, immer etwas austauschbaren High-Fantasy-Entwürfen der gefühlt allgegenwärtigen Tolkien-Epigonen: Statt im Mittelalter befinden wir uns in einer Zeit der Industrialisierung und begegnen einer Gesellschaft, die hin- und hergerissen ist zwischen den alten Kulten mit ihrer mächtigen Magie und dem scheinbar unaufhaltsamen Fortschritt mit seinen rußspuckenden Dampfmaschinen. Ungestümer Entdeckergeist kollidiert hier mit abergläubischen Ängsten, was ein faszinierendes Spannungsfeld ergibt. Gößling schafft es, seinen Weltentwurf mit vielen Details und eingestreuten kleinen Beobachtungen zum Leben zu erwecken (man ist sogar zur Abwechslung mal motiviert, ab und an das obligatorisch mitgelieferte Kartenmaterial zu konsultieren) und schafft somit eine dichte Atmosphäre und eine ordentliche Bühne für seine Handlung.
Und wenn diese dann endlich an Schwung gewonnen hat, entpuppt sie sich auch als spannend und kurzweilig. Sprachlich ist die Geschichte etwas egal, aber immerhin ohne störende Schnörkel. Nur der durchaus sympathische Hang des Autoren zu Alliterationen bricht sich von Zeit zu Zeit durch Formulierungen wie „der widerliche weiße Wurm“ seine Bahn.
Einzig am Schluss findet sich ein Wermutstropfen, denn das Ende ist zwar wendungsreich und schön flott erzählt, aber auch arg abrupt. Fast so, als würde uns Gößling noch ein ganzes Kapitel vorenthalten. Klar, man hat genug Informationen, um sich alles auch in der eigenen Fantasie zusammenzureimen, aber es bleibt der Nachgeschmack, dass einem der Autor etwas nicht erzählen wollte. Oder, schlimmer noch, es nicht konnte. Aber zum Glück liegen die Stärken von „Der Ruf der Schlange“ ja sowieso im faszinierenden Weltentwurf und der dichten Atmosphäre. Das genügt, um ein wenig intelligente Unterhaltung und ein paar spannende Stunden zu liefern, vor allem für Freunde des Film Noir und von Fantasy abseits des Mainstreams. Anhänger der Höhenkammliteratur hingegen dürfen sich frei fühlen, auch über dieses Stück Belletristik nach Herzenslust zu unken.
Der Ruf der Schlange
von Andreas Gößling
Rezensiert von Martin Katzorreck
Martin ist Psychologe und trotzdem ganz umgänglich. Wenn er nicht gerade im Kino sitzt, dann liest er – nach eigenem Ermessen aber immer viel zu selten. Er liebt Bücher, die ihn mit Sprachgewalt packen und in ungesehene Welten zerren. Gerne in Form eines Romans, doch auch Graphic Novels gegenüber ist er nicht abgeneigt. Auch wenn er sie häufig noch als „Comics“ bezeichnet.