Blaubart

Als Saturnine am angegebenen Ort eintraf, wunderte sie sich über die vielen Menschen. Natürlich hatte sie schon geahnt, dass sie nicht die einzige sein würde; aber mit fünfzehn Personen, die alle vor ihr drankamen, in einem Warteraum zu sitzen, war dann doch etwas anderes.
Don Elemirio Nibal y Milcar ist ein merkwürdiger Mann: Ein Liebhaber der Farben im Allgemeinen und des Goldes im Speziellen, ein Frauenheld und überhaupt ein Mensch mit sehr eigenen Vorstellungen von Ethik, Ehre und Moral. Ein Mann, für den die spanische Adelswürde das Wertvollste im Leben zu sein scheint und der seinen Familienstammbaum bis zu Jesus Christus zurückverfolgen kann, wie er selbst sagt. Ein Mann, der seit zwanzig Jahren sein Haus nicht mehr verlassen hat, weil ihn die Welt und die Menschen in höchstem Maße langweilen und anwidern.
Per Zeitungsannonce sucht dieser Sonderling eine neue Untermieterin, und als die junge Lehrerin Saturnine bei ihm vorstellig wird, bedarf es lediglich eines kurzen Blickes und die Wahl ist getroffen. Saturnine zieht noch am selben Tag ein und wird von der ersten Minute an mit Luxus regelrecht überschüttet. Der Hausherr selbst kocht allabendlich für sie, und auch sonst stehen Hausdiener und Chauffeur jederzeit zu ihren Diensten. Don Elemirio lässt seiner neuen Mieterin alle erdenklichen Freiheiten – mit einer Ausnahme: Es gibt eine schwarz gestrichene Tür zu einer Kammer, die zu betreten ihr strengstens verboten ist: »Der Raum ist absolut tabu. Wenn Sie hier eindringen, werde ich es merken, und es wird Ihnen leidtun.« Saturnine selbst ist die neunte Untermieterin im Hause Elemirio: Ihre acht Vorgängerinnen konnten der verbotenen Versuchung nicht widerstehen, und seitdem fehlt von ihnen jede Spur.
»Es gibt einen Trost, den nur ein großer Champagner spendet«, seufzte sie. »Sie brauchen Trost, mein armes Kind! Das passt wunderbar. Ich habe nämlich die tröstlichste Speise des Universums zubereitet: Rührei.«
»Blaubart« ist – einige werden es sich schon gedacht haben – eine moderne Adaption des gleichnamigen französischen Märchens. Amélie Nothomb hat das ursprüngliche Motiv des reichen Liebestrunkenen hergenommen und, wie es ihre Art ist, die Geschichte zusätzlich mit vielen wunderbaren kleinen Absurditäten angereichert. Besonders das Charakterbild, das sie von Don Elemirio zeichnet, ist in seiner Vielschichtigkeit nur schwer zu fassen: Ohne sich auf so naheliegende Merkmale wie z. B. sein Aussehen zu beschränken, schafft Amélie Nothomb es durch ihren Einfallsreichtum und ihre unbändige Lust am Erzählen, den Hausherrn allein durch seine moralischen und ethischen Ansichten lebendig werden zu lassen. Die Dialoge, die sich zwischen Saturnine und Don Elemirio bei Torte und Champagner entspinnen, sind ein einziges großes erzählerisches Feuerwerk: Beißend zynisch, philosophisch und enorm menschlich. Ehe man sich’s versieht, ist man als Leser zwischen zwei Fronten geraten, zwei moralische Großmächte, aus deren rhetorischem Kriegsgebiet es so schnell kein Entkommen mehr gibt.
Ein Fehler wiegt doch nicht weniger schwer, nur weil ihn jeder begeht.
»Blaubart« ist ein herrlich kurzweiliges, aber alles andere als oberflächliches Buch. Amélie Nothomb ist mit dieser Geschichte wieder einmal das gelungen, wofür ich sie so sehr schätze: Sie ist Meisterin darin, das Skurrile und Komische mit dem Ernsten auf eine Weise zu verbinden, dass man als Leser immer wieder zum Nachdenken angeregt wird und sich trotzdem jederzeit bestens unterhalten fühlt.

Blaubart

160 Seiten, € 18,90, gebunden
Diogenes, ISBN 978-3257068948
aus dem Französischen von Brigitte Große

Rezensiert von Alexander Schau