von Verena Lueken
Alles zählt
New York im Sommer. Beißendes Licht, brüllende Hitze, eine erbärmliche Zeit, um zu sterben.Die Protagonistin mag Mitte 50 sein und ist nach New York geflogen, um ein paar Wochen in ihrer Lieblingsstadt zu verbringen. Dort erkrankt sie und muss erfahren, dass sie erneut Krebs hat, schon zum dritten Mal in ihrem Leben.
Sie hatte inzwischen einige Tage im Bett verbracht, mit hohem Fieber und Brustschmerzen, und im Zuge der notwendigen Untersuchungen war ein verdächtiger Knoten in ihrer Lunge festgestellt worden. Ein neuer Krebs vermutlich.15 Jahre zuvor wurde bei ihr zum ersten Mal Krebs diagnostiziert, ein paar Jahre später tauchte er wieder auf. Beide Male wurde sie erfolgreich behandelt, und die Frau kennt bereits die Schmerzen, das Leiden, die gesamte Prozedur, der sie sich zum dritten Mal unterziehen muss. Die erneute Diagnose löst in ihr einen Gedanken- und Erinnerungsstrom aus, der den gesamten Roman trägt. Sie denkt an ihre Eltern, die bereits verstorben sind, an ihre bisherigen Behandlungen, an ihren Kampf gegen die so häufig tödlich verlaufende Krankheit. Es ist nicht überraschend, dass sich ihre Gedanken sehr intensiv um das Thema Tod drehen.
Die Frau arbeitet im journalistischen Bereich und ist von Aphorismen und kurzen, prägnanten Sätzen oder Aussagen fasziniert. Ihr kommen Zeilen aus Songs in den Sinn oder Sätze aus Büchern, die ihr wichtig sind. Beziehungen zu ihr wichtigen Personen manifestieren sich ebenfalls in einzelnen Sätzen:
Als sie das zum ersten Mal hörte, mit dem typischen Laurie-Anderson-Echo – Speak my language – Speak my language – Speak my language –, da spürte sie, wie sehr sie sich wünschte, ihr Vater hätte ihr einen Satz hinterlassen, an den sie sich erinnern konnte. Sie hatte, als er im Sterben lag, noch versucht, ihn diesen einen Satz, den sie nicht vergessen würde, oder einen Händedruck oder irgendeine andere Art der Zuwendung abzupressen, hatte sich zu dem Sterbenden, der schon ganz klein geworden war, ins Bett gelegt und gesummt und ihm die Schulter gestreichelt, aber er hatte nicht reagiert, und am nächsten Tag war er tot.Kluge, geistreiche Sätze sind ein wiederkehrendes Thema des Romans, Krankheit und Tod die anderen. Luekens Kunst besteht darin, schwere Themen nicht als apokalyptische Horrorszenarien zu präsentieren; sie kann vielmehr in geistreichen Gedankengängen eine Leichtigkeit um wichtige Lebensthemen an den Tag legen. Die Geschichte endet nicht mit der Diagnose, sondern es kommt schon bald zur erforderlichen Operation. Anschließend muss die Protagonistin ungeheure Schmerzen erleiden. Diese Passagen gehören zu den intensivsten und verstörendsten des gesamten Werks.
Die Schmerzen aber waren schneidend, bohrend, drückend, kreischend, hämmernd, zischend, brüllend in ihr geblieben, sodass sie sich damals geschworen hatte: nie wieder. Aber die Chirurgin mit den Eisenhänden hatte ihr, als es dann doch wieder so weit war, versprochen: So wie damals wird es nicht wieder sein. Und doch war es wieder genauso und noch mehr.Nur mithilfe von starken Medikamenten kann sie die Schmerzen aushalten, die ihr Leben bestimmen. Ein normales, erfülltes Leben ist ihr in diesem Zustand nicht vergönnt, und der Leser kann die Schmerzen förmlich miterleben, die den Körper der Protagonistin im Griff haben. Die Folgen sind so entsetzlich, dass sie depressive Zustände bekommt und nach langer Zeit nur einen Ausweg sieht.
Sie versuchte zu arbeiten, aber sie hatte jeden Ehrgeiz verloren. Sie hasste sich, die Schmerzen. Sie hasste die Drogen, die sie besänftigten, aber nicht im Zaum hielten. Und dann entschloss sie sich, das Einzige zu tun, das in ihrer Macht stand. Sie hörte mit den Drogen auf.Zwei Dinge stören an dem hervorragenden Werk von Verena Lueken. Zum einen ist es der etwas irreführende Titel. »Alles zählt« ist eine Verkürzung des Satzes Alles, was zählt, den die Protagonistin denkt, als sie sich im Sterben wähnt und vor ihrem inneren Auge ein Zeitraffer des eigenen Lebensfilms abläuft. Der Titel suggeriert, dass alles zählt, Gutes wie Schlechtes oder Belangloses, während das was eine Auswahl wichtiger Ereignisse beinhaltet. Im Roman geht es nicht um das gesamte Leben, sondern um existenziell wichtige Fragen und Erlebnisse. Der Inhalt ist demzufolge interessanter als das, was der Titel verspricht. Und ein Roman ist das Werk ebenfalls nicht, sondern ein literarisch kunstvoll gestalteter Erlebnisbericht einer Frau, die eine ungewöhnliche Krankheitsgeschichte vorweisen kann. Aber Roman klingt gut und lässt sich besser verkaufen.
Ihr Weg aus den Drogen wird, genauso wie der gesamte Roman, nüchtern geschildert. Sie schafft es schließlich auf eine geschickte Art, ihre Schmerzen unter Kontrolle zu bringen und ist am Ende des Romans zum dritten Mal geheilt von der unheilbaren Krankheit.
Der andere Punkt betrifft eine zentrale Frage des Werks: Warum versteckt sich Verena Lueken hinter einem auktorialen Erzähler? Warum tritt die Frau nicht als Ich-Erzählerin auf und präsentiert ihr Werk als Tatsachenbericht? Wir erfahren von intimen Ängsten und Hoffnungen der Frau, wir bekommen ihre Gedanken präsentiert. Es sind unglaublich nahegehende Erlebnisse, und manchmal ist die Ich-Erzählerin nicht zu bremsen, dann scheint sie durch den auktorialen Erzähler hindurch:
Aber was ihren Krebs anging, dachte sie nicht magisch. Sie fühlte sich auch weder bestraft noch ungerecht erwählt noch hatte sie sich je mit der Frage gemartert, warum ausgerechnet ich. Jedes Mal, wenn sie krank geworden war, hatte sie sich nur gefragt, wie komme ich da wieder raus.Als Reportage oder Bericht hätte sich das Werk voraussichtlich nicht so gut verkauft, deswegen die Deklaration als Roman. Und um den Ansprüchen des Genres gerecht zu werden, erfindet die Autorin ein esoterisches Ende, in dem die Protagonistin nach Myanmar reist und sich auf die Suche nach einem Masseur macht, der ihr Jahre zuvor You are kind sagte und sie damit nachhaltig beeindruckte. Der Ausweg aus der Hölle der Schmerzen gelingt ihr indes auf beeindruckende Art, doch mischt sich etwas Kitsch ein, der nicht notwendig gewesen wäre; ist der gesamte Text doch sonst von einem gewissen Zorn getragen, der keine wehleidigen noch sentimentalen Stimmungen zulässt. Verena Luekens Werk ist mit Joan Didions »Das Jahr magischen Denkens« vergleichbar. Tiefgründige, ergreifende Literatur, bitte mehr davon.