Ohrfeige

Stumm und starr vor Angst hockt sie in ihrem Drehstuhl, als hätte die Ohrfeige sie betäubt. »Sie ruhig sind und bleiben still.« Ich greife nach dem Packband in meiner Jackentasche, fessle ihre Hände an die Armlehnen und die Fußgelenke an die Stuhlbeine. Mit mehreren Streifen klebe ich ihren rot geschminkten Mund zu.
Karim Mensy reicht’s. In Deutschland ist er als Asylbewerber gescheitert, er hat keinerlei Perspektive mehr und ist ausreisepflichtig. In Deutschland zu studieren, zu leben und zu arbeiten, davon hatte er geträumt, als er aus dem Irak floh, aber das alles wird er in Deutschland nicht können. Er hat daher Kontakte zu einem Schlepper aufgenommen, der ihn hoffentlich nach Finnland bringen wird. Doch bevor er abreist, stattet er der für ihn zuständigen Mitarbeiterin in der Ausländerbehörde, Frau Schmidt, noch einen letzten Besuch ab. Und sie, die sonst immer ohne jedes Mitgefühl über sein Schicksal entschieden hat wie über das von so vielen anderen Asylsuchenden, hat dieses Mal gefälligst zuzuhören. Also fesselt er sie an ihren Stuhl und klebt ihr den Mund zu. Und Karim kann sich endlich einen Joint anzünden und sich alles ungestört von der Seele reden.

Tragikomisch und beklemmend schildert Abbas Khider in »Ohrfeige« die Perspektivlosigkeit und die daraus resultierende quälende Langeweile der im »Asylantenheim« zufällig zusammengewürfelten Flüchtlinge verschiedenster Nationen Anfang der 2000er. Mit ihrem ungeklärten Aufenthaltsstatus ist ihnen nicht erlaubt, eine Arbeit aufzunehmen – nicht einmal einen Sprachkurs dürfen sie machen, sodass sie sich unter den Einheimischen dauerhaft wie Außerirdische fühlen, unfähig, Kontakte aufzubauen. Schul- und Studienabschlüsse aus ihren Heimatländern werden nicht anerkannt, quälend lange Monate vergehen zwischen dem Antrag auf Asyl und dem grünen Brief, der die Entscheidung dazu mitteilt. In diesen Monaten voll von erzwungener Untätigkeit verpuffen nach und nach sämtlicher Ehrgeiz und sämtlicher Elan, mit dem die Reise in ein neues Leben gestartet ist. Zurück bleiben Resignation und Frustration.
Was du sagst, interessiert in den Beamtenstuben kein Schwein. Das weißt du selbst. Jetzt seid ihr Iraker dran, wie einst die Jugoslawen nach dem Balkankrieg. Zuerst lässt man sie herein, nach dem Krieg schickt man sie ins Chaos zurück, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was aus ihnen wird.
> Khider, der 1992 selbst aus dem Irak fliehen musste, porträtiert in seinem Roman das Unmenschliche und Unberechenbare der deutschen Behörden und die Stigmatisierung von Flüchtlingen, ohne aber den Blick auf die kriminellen Strukturen unter den in Deutschland lebenden Geflüchteten auszulassen. Es schildert die paradoxe Situation von Menschen, die sich ein neues Leben aufbauen wollen, die eine neue Sprache lernen und sich in einem neuen Land eine Existenz aufbauen wollen, die aber dazu gezwungen werden, rein gar nichts zu tun und auf unbestimmte Zeit zu warten, ohne Geld und ohne wirkliche Hoffnung. Einer von Karims Bekannten steigert sich in Fanatismus hinein, ein anderer wird wahnsinnig. Und Karim, der sich als »aufrichtiger Trottel« seinen Weg zu bahnen versucht, fällt durch die Raster eines unpersönlichen Asylsystems.

Auch wenn die Handlung des Romans Anfang der 2000er stattfindet, ist »Ohrfeige«, gerade vor dem Hintergrund der Flüchtlingsbewegungen der letzten Jahre, auch heute noch aktueller denn je und ein gut gelungenes, lakonisches Porträt eines wütenden und resignierenden jungen Mannes auf der Suche nach einem Neuanfang.

Ohrfeige

224 Seiten, € 10,00, Taschenbuch
btb, ISBN 978-3442714902

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Rezensiert von Rike Zierau