von Thomas Glavinic
Wie man leben soll
An dem Abend, an dem drüben in Amerika die Challenger überCape Canaveral explodiert, liegt man zum ersten Mal mit einem Mädchen im Bett. Von dem Unglück ahnt man nichts, man konzentriert sich auf unsittliche Berührungen.Dieser Roman sollte einen Warnhinweis tragen: Bitte in ruhiger Umgebung beginnen. Denn auch wenn der Titel es nicht auf Anhieb verrät, führt er es doch direkt beispielhaft vor: Dieser Roman hat keinen Ich- oder Er-Erzähler, hier erzählt »man«.
»Man« ist Karl Kolostrum, genannt Charlie, der zu Beginn des Romans sechzehn ist und den der Leser durch die wildesten Jahre seiner späten Pubertät und der darauffolgenden Studentenzeit begleitet. Charlie ist dick und in der Schule nicht gerade der Beliebteste. Das Verhältnis zu seiner oft betrunkenen Mutter ist distanziert, ein Vater ist nicht vorhanden. Generell eher ratlos darüber, was das Leben mit ihm vorhat, ist Charlie jedoch ein Profi, wenn es um Ratgeberlektüre jeder Art und Nachschlagewerke zur Lebenshilfe geht. Unentwegt zitiert er mal aus »Die Persönlichkeit«, »Der Körper«, »Die große Geschichte der Rockmusik, psychologisch betrachtet« oder ähnlichen Anlaufstellen Ratsuchender und streut auch hin und wieder eigene Merksätze ein. Große Erkenntnisse manifestiert er darin allerdings nicht und auf seinem Lebenswerk helfen ihm seine Merksprüche auch nur wenig weiter. Ohne einen großen Plan vom Leben stoplert Charlie durch die Welt, lässt sich mehr tragen als dass er selbst geht. Verwunderlich ist das nicht: Immerhin hat der Multiple Choice-Test eines seiner Ratgeber ergeben, dass er ein 86%iger Sitzer ist. Also sitzt Charlie es aus. Und die Situationen, in die der Sitzer Charlie ungewollt gerät, sind nicht immer nur das alltägliche Lebenschaos eines Heranwachsenden. Als die betrunkene Mutter die Nachbarin verprügelt und Charlie seine Mutter vor Gericht deckt, hat er das erste Mal Kontakt zur Justiz – dabei bleibt es allerdings nicht. Hinzu gesellt sich über die Zeit der ein oder andere Mord, wenn auch versehentlich, und die Auswirkungen dieser Morde lenken Charlie in immer wieder neue Bahnen – und sei es auch nur durch den unverhofften Geldsegen einer dadurch frühzeitig erhaltenen Erbschaft.
Sicher – wenn man Karl Kolostrum heißt, ist es vielleicht nachvollziehbar, wenn man sich in völliger Selbstentfremdung nur noch als »man« bezeichnet. Gleichzeitig zur Ichentfremdung Charlies gelingt dem Autor Thomas Glavinic der Eindruck, das alles, was Charlie unternimmt, verallgemeinert wird und jeden einbezieht. Charlies Leben wird zu einem umfassenden Ratgeber dafür, wie man sich in den unterschiedlichsten Situationen verhalten sollte oder verhalten könnte.
Es kann etwas dauern, sich in diesen Roman einzulesen, da anfangs das Gefühl aufzukommen droht, dass der Stil stetig den Inhalt überdeckt und vom Wesentlichen ablenkt. Wenn es nach einer Weile aber nicht mehr auffällt, dass hier ein »man« erzählt, achtet man deutlicher auf den amüsanten, ironischen, teils absurden Inhalt. »Wie man leben soll« ist ein wenig Popliteratur, ein wenig Entwicklungsroman – in jedem Fall kurzweilig und empfehlenswert.
Wie man leben soll
von Thomas Glavinic
Rezensiert von Rike Zierau
Rike liest nur halb so viel, wie sie es gern möchte und mag weniger als die Hälfte der Bücher nur halb so gern, wie sie es (vielleicht) verdienen. Iris Radisch hält sie für eines der besten Dinge, die der Literaturwelt passieren konnten.