von Kolja Mensing
Fels
Am Freitag wird er in die Heil- und Pflegeanstalt verlegt. Es ist ein kühler Frühlingstag, und im Krankenhaus haben sie ihm seinen zerschlissenen Wintermantel über die Schultern gelegt. Als einer der Wärter, ein stämmiger Mann in Kittel und Schürze, ihm beim Aussteigen aus dem Krankenwagen helfen will, beginnt der Patient sich zu wehren. Wortlos schlägt er um sich, der Mantel fällt zu Boden.Manchmal bedarf es langer und mühsamer Recherche, um aus bruchstückhaften Überlieferungen der eigenen Familiengeschichte ein umfassenderes Bild zu formen. Kolja Mensing hat mit »Fels« eine solche Rechercheleistung vollbracht. In zahlreichen Gesprächen mit seiner Großmutter hat er nach und nach immer mehr Erinnerungen an ihre Jugend während der NS-Zeit gesammelt und diese mit Nachforschungen aus Archiven, Zeitungen, alten Briefen und Postkarten zusammengefügt, Puzzlestück für Puzzlestück. Entstanden ist dabei ein wichtiges Buch über das Erinnern und das Verdrängen.
Mensings Großmutter erzählt gern von früher, insbesondere die romantischen Geschichten darüber, wie sie Mensings späteren Großvater kennenlernte, wie sich die beiden heimlich verlobten und mitten im Krieg auch heirateten. Im Zentrum von Mensings Buch steht allerdings nicht nur die Geschichte seiner Großeltern, sondern insbesondere die von Albert Fels, einem jüdischen Bekannten der Familie, dessen Name in einem der Telefonate mit seiner Großmutter nur eher zufällig fällt, der Mensing aber sofort aufhorchen lässt.
Meine Großmutter hatte aus dem Krieg eine Liebesgeschichte gemacht, und ich hörte ihr gern zu […]. Sie hatte die Gabe, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. […] Erst als sie Albert Fels erwähnte, den alten Knecht, der hinter dem Haus ihres Onkels nachmittags gern auf der Bank vor der Scheune saß, fiel ein Schatten auf die Geschichte meiner Großmutter. Fels, sagte sie, war Anfang des Krieges verschwunden. Er hatte wieder einmal tagelang zu viel getrunken, und schließlich fiel er ins Delirium und wurde in die Heil- und Pflegeanstalt in O. eingewiesen. Im Dorf hörte man nie wieder von ihm. Man weiß ja, was damals passiert ist, sagte meine Großmutter […].Nun hätte der Enkel es dabei bewenden lassen können, aber das Interesse an Albert Fels, über den die Großmutter so wenig Konkretes zu berichten hatte, war geweckt. Jede noch so kleine Erinnerung der Großmutter an Fels, an dessen Lebensgeschichte und Lebensumstände lässt Mensing sich erzählen. Er merkt aber auch, dass er oftmals nur die eine Seite der Medaille hört, die kurze, einfache, die schöngefärbte Variante der Erinnerung. Er macht sich daher ergänzend auch auf anderen Wegen auf die Suche und trägt aus unterschiedlichsten Quellen Informationen über die sich verschlechternden Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung in Deutschland allgemein, aber auch über die eigene Familiengeschichte und die von Albert Fels zusammen. Und je tiefer er gräbt, desto tiefer sind auch die Abgründe, die sich auftun.
Kolja Mensing hakt in seinem autobiografischen Roman »Fels« insbesondere an den Stellen nach, an denen die Zeitzeugen-Generation durch Verdrängungsmechanismen das Wegschauen und Wegdenken geübt hat. Es lässt erahnen, wie schier zahllos die Erinnerungen der Kriegsgeneration eigentlich sein müssten, an Menschen, die zunächst Freunde, Bekannte, Nachbarn, Kollegen waren, die dann argwöhnisch beobachtet, gemieden, enteignet, verschleppt und ermordet wurden. Und es lässt vermuten, dass kaum jemand geglaubt haben kann, die jüdischen Mitbürger seien einfach so verschwunden, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wohin sie verschwunden sind. Stattdessen wichen die Gedanken an sie anderen, leichteren Erinnerungen.
Dadurch macht Mensing deutlich, wie der NS-Staat überhaupt von der obersten Ebene bis hinunter zur kleinen Dorfgemeinschaft funktionieren konnte. Sein Buch zeugt von der Suche nach einem Sündenbock, der in der jüdischen Bevölkerung gefunden wurde, vom kollektiven Wegschauen und von mehr und mehr Gleichschaltung im totalitären NS-Regime. Es zeigt, wie tief die perfide Ideologie der Nazis in die Denkweise der Bevölkerung hineingesickert ist, bis sie das ganze gesellschaftliche Miteinander durchdrungen hatte. Und der Roman zeugt von der selektiven Erinnerung der Mitläufer, die weggeschaut oder gar mitgejubelt haben, die durchaus mitbekommen haben, dass die jüdischen Bewohner ihrer Orte vertrieben wurden oder verschwanden, die die Erinnerung an sie aber nicht wachgehalten, sondern verdrängt und vergessen haben.
Gerade derzeit, wo vom Fremdenhass geprägter Jargon wieder salonfähig zu werden droht, ist dieses Buch wichtiger denn je. Denn lange ist dieses Kapitel der deutschen Geschichte wirklich noch nicht her. Umso wichtiger ist es, dass sich die Geschichte nie mehr wiederholt.
Fels
von Kolja Mensing
Rezensiert von Rike Zierau
Rike liest nur halb so viel, wie sie es gern möchte und mag weniger als die Hälfte der Bücher nur halb so gern, wie sie es (vielleicht) verdienen. Iris Radisch hält sie für eines der besten Dinge, die der Literaturwelt passieren konnten.