Carambole

Ich weiß nicht, was passiert ist. Und wenn ich es wüsste, gäbe es keine Wörter dafür, um es zu erzählen. Die, die man hat, verdrehen alles.
»Ein Roman in zwölf Runden«, so hat Jens Steiner sein Panoptikum eines namenlosen Dorfes in der Schweizer Provinz untertitelt. Dieses Dorf scheint fernab jeder Zivilisation zu existieren; niemand kommt hinein, und niemand geht. Der Kreis der handelnden Personen ist eng gezogen, und je weiter man liest, desto kleiner wird der Radius dieses Kreises. Alles zirkelt einem gemeinsamen Kern entgegen, der »Stillstand« heißt. Doch der Reihe nach:

Die zwölf Kapitel, in die Jens Steiner seinen Roman unterteilt hat, ließen sich auch als eigene Geschichten lesen. Es ist ein Episodenroman, der viele kleine Details bereithält, die sich nach und nach immer weiter ineinander verzahnen.
Ja, wir schämen uns. Doch wir wissen auch, dass die Scham kostbar ist, denn sie ist unser Innerstes.
Das Personal ist enorm liebevoll gestaltet: Da sind die drei Jugendlichen, die ständig nur durchs Dorf stromern und das Abenteuer im Garten eines Nachbarn suchen. Da sind die zwei Brüder, die seit einem Zwischenfall vor vielen Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben und sich seitdem aus dem Weg gehen. Da ist die »Troika«, ein Zusammenschluss dreier Männer, die sich Scheinidentitäten gegeben haben und ihre Abende mit Alkohol, einem alten Brettspiel und der Lust am Genuss verbringen.

Es findet allerhand Miteinander statt, und gleichzeitig finden die Figuren nur selten wirklich zueinander. Am Ende stellt sich heraus, dass eigentlich niemand wirklich etwas über den anderen weiß – alle hüllen sie sich auf ihre Art in ihre ganz persönlichen Geheimnisse, und obwohl sie sich alle schon seit Jahren kennen, wissen sie eigentlich gar nichts voneinander.
Aus dem Nichts war sie gekommen. Eine Weltenbummlerin, die auf ihren Reisen überall und nirgends gewesen war. Sie kannte die Kontinente, ohne sie benennen zu können. Allen Orten hatte sie ihren eigenen Namen gegeben, und so machte sie es auch mit diesem Dorf, mit diesem Haus, mit mir. Mein Leben mit ihr war eines, von dem ich nie geträumt hatte. Aber es war das richtige, das beste Leben. Wir ehrten es laut und furchtlos.
Worum es in »Carambole« schließlich geht, oder was genau dieser Roman dem Leser letztlich sagen will, das muss wohl jeder für sich entscheiden. Jens Steiner stellt indirekt viele Fragen, liefert aber keine Antworten dazu: Was bedeutet »Identität«, wie viel geben wir (bewusst und unbewusst) voneinander preis? In was für Umständen verfangen wir uns selbst, und was tun wir konkret, um diese zu ändern? Warum begnügen wir uns lieber mit Lethargie und Stagnation, anstatt über unseren Schatten zu springen und anzupacken? All das sind Überlegungen, die man anstellen kann, aber nicht muss. Jens Steiners Roman liefert viele Anstöße, ist letztlich aber glücklicherweise mehr Skizze als fertiges Bild und diktiert dem Leser keine Bilder in den Kopf. Er ist ein sprachlich gewaltiges Kaleidoskop der menschlichen Langeweile, voller liebenswerter Ideen und eine unbedingte Leseempfehlung!

Carambole

220 Seiten, € 9,99, Taschenbuch
Doerlemann, ISBN 978-3908777922

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Rezensiert von Alexander Schau